Viele Menschen haben kaum oder gar keine Berührungspunkte mit Menschen mit Behinderung. Dadurch sind Begegnungen oft von Unsicherheiten und Ängsten geprägt. Nicole ist Erziehungs- und Bildungswissenschaftlerin, Koordinatorin für das „Netzwerk Eltern Selbsthilfe“, Obfrau des Vereins Integration Vorarlberg und Autorin. Sie macht sich für Menschen mit Behinderung und deren Integration in die Gesellschaft stark. Im Interview erzählt die „Inkluencerin“ über ihre persönlichen Erfahrungen als Mutter einer Tochter mit Behinderung und ihre Idee mit einem Kinderbuch die Menschen für das Anderssein zu sensibilisieren.
Nicole, warum ist die Inklusion von Menschen mit Behinderung immer noch ein Tabuthema?
Alte Menschen und Kinder denken wir im Alltag, bei Projekten oder Veranstaltungen automatisch mit. Damit kann sich jeder identifizieren. Menschen mit Behinderung sind oft nicht in unseren Köpfen. Man vergisst sie direkt anzusprechen oder einzuladen. Es gibt immer noch Berührungsängste, weil man nicht weiß, wie man reagieren oder darüber sprechen soll. Unser Umgang mit Menschen mit Behinderung ist historisch gewachsen. Bei der Pränataldiagnostik werden immer noch neun von zehn Kindern mit Diagnose Downsyndrom abgetrieben. Das zeigt, die Angst ist groß. Oft gar nicht so sehr vor dem Kind, sondern vor der Reaktion anderer. In unserer Leistungsgesellschaft sind die erfolgreich, die mithalten können. Für Menschen, die aus dem Raster fallen, wird es mitunter ziemlich schnell sehr eng. Damit Inklusion aber gelingen kann, brauchen wir Erklärungen, warum ein Mensch mit Behinderung etwas nicht oder noch nicht kann bzw. warum er sich „anders“ verhält. Als ich 2012 meine Tochter Frida bekam, hat sich auch für uns die Welt erstmal auf den Kopf gestellt.
Wie hat sich dein Leben dadurch verändert?
Viele Menschen wissen gar nicht, dass 96 Prozent aller Diagnosen erst im Laufe des Lebens und nur vier Prozent pränatal oder direkt bei der Geburt gestellt werden. So auch bei uns. Es war wie ein Puzzlespiel: eine Entwicklungsverzögerung plus andere gesundheitliche Themen führten mit zwei Jahren zur Verdachtsdiagnose, die ein Jahr später bestätigt wurde. Ihr fehlt das Elastin-Gen und alle ihre Merkmale und Auffälligkeiten haben mit ihrem Bindegewebe zu tun. Als Mama habe ich zwar schon lange gespürt, dass etwas nicht stimmt, aber aussprechen habe ich es mich lange nicht getraut. Ich spürte zwar eine Erleichterung, aber es war auch ein großer Schock. Eine Behinderung bedeutet sowohl für das Kind als auch die Eltern, dass es nicht einfach wird und viel Mut und Kraft braucht, um diesen Weg gemeinsam zu gehen. Mein Mutterherz schmerzte, aber im Kopf wusste ich aufgrund meiner Erfahrung und Ausbildung, dass das kein Weltuntergang ist und wir es mit Unterstützung schaffen werden.
Wo hast du dann gemerkt, dass du Hilfe benötigst?
Damals war ich noch alleinerziehend und brauchte für meine Tochter im Kindergarten zwei Tage lang eine Ganztagesbetreuung. Da bin ich erstmals an die Grenzen des Systems gestoßen und musste darum kämpfen, dass mein Kind das Angebot bekommt, dass wir benötigen. Österreich hat 2008 die UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen ratifiziert. Mit dieser Unterschrift hat das Land zugesagt, dass es Inklusion für Menschen mit Behinderung in allen Bereichen umsetzen wird. In der Praxis habe ich dann gemerkt, dass das leider noch nicht so funktioniert, wie es sein sollte. Daraufhin habe ich mir beim Verein Integration Vorarlberg, der sich für ein gutes Leben mit Behinderung einsetzt, Hilfe geholt. 2018 entstand dann die Idee für Himmelblau.
Du hast damit ein Buch herausgebracht und deinen eigenen Verein gegründet. Wie kam es zu deinem Herzensprojekt?
Himmelblau ist aus meinem Schmerz darüber entstanden, dass Erwachsene sich schwer tun mit Kindern über das Thema Behinderung offen zu sprechen. Dann hat mich noch eine Freundin gefragt, ob ich nicht ein Buch hätte, das den Umgang mit Frida erklärt. Daraufhin habe ich nichts Passendes gefunden und mir ist die Geschichte von meinem ersten Fahrrad in den Sinn gekommen. An diesem ist immer ein Pedal abgebrochen und mein Vater hat ihn dann mit Klebeband fixiert. Ich bin hauptsächlich mit älteren Jungs aufgewachsen und da war das natürlich richtig uncool. Auf das Fahrrad konnte ich mich nicht verlassen und mit den anderen auch nicht mithalten. Das ist eine gute Metapher für das Gen, das Frida fehlt. Wer es nicht weiß, sieht es auf den ersten Blick gar nicht. Aber es beeinflusst stark ihr ganzes Leben. Es kostet sie enorm viel Energie, um sich auf eine Sache zu konzentrieren. Die Geschichte von Ella und ihrem Fahrrad hilft Kindern, Menschen mit Behinderungen zu verstehen und richtig einzuordnen. Das manche Dinge, die für uns eine Selbstverständlichkeit, für andere eine echte Herausforderung sind. Es geht ums Anderssein und um andere Voraussetzungen zum Leben und Lernen. Wir wollen Erwachsenen Mut machen, diese Themen aufzugreifen und den Betroffenen und Angehörigen dadurch empathisch zu begegnen.
Ihr habt das Buch im Eigenverlag publiziert. Warum?
Eigentlich wollte ich mit meiner Idee nur ein Projekt im Kindergarten anzetteln. Ich habe dann aber Luka Jana Berchtold, eine Künstlerin aus Schwarzenberg angerufen, die sofort zugesagt hat, die Gestaltung zu übernehmen. Matthias Köb hat uns dann als Texter geholfen, meine moralischen Ansprüche in eine dramaturgisch flüssige Geschichte zu verpacken. Obwohl wir an verschiedenen Orten leben, haben wir bis auf zwei Treffen das ganze Projekt digital abgewickelt. Auch wenn mein Radius in Damüls mit zwei kleinen Kindern derzeit etwas eingeschränkt ist, sehe ich mich doch als Weltbürgerin. Die Zusammenarbeit hat mich beflügelt und mir das Gefühl gegeben, dass ich handlungsfähig bin. Die Literaturwelt hat aber nicht auf uns gewartet, so haben wir das Buch im Eigenverlag herausgebracht. Innerhalb von 46 Stunden konnten wir über Crowdfunding die benötigten 10.000 Euro auftreiben. Das war unglaublich und auch die Rückmeldungen der Eltern und Pädagog*innen, dass unser Buch hilft, die Herausforderungen mit einer Behinderung endlich in geeigneten Worten und Bildern zu erklären, haben jede investierte Stunde wettgemacht.
Und nicht nur in Worten und Bildern, ihr macht auch ganze Projekttage mit Workshops und Events.
Das Buch ist ein guter Einstieg, aber ein gelungener Bildungsmoment hat immer mit Berührung zu tun. Wenn dich etwas oder jemand berührt, dann sitzt das so richtig. Deshalb wollten wir den Kindern die Möglichkeit geben, selbst zu erfahren, wie es ist mit einer Behinderung zu leben. Die Kinder können Alltagssituationen unter leicht veränderten Bedingungen ausprobieren. Sie bekommen Brillen aufgesetzt, die eine Sehbeeinträchtigung simulieren oder versuchen mit Handschuhen Reißverschlüsse zuzumachen. Die Kinder lernen dadurch, dass jeder andere Talente und Fähigkeiten besitzt. Nur kann man sich nicht aussuchen welche. Jeder Mensch hat seinen völlig einzigartigen Genbaukasten. Es ist einfach Glück, was man bekommt oder eben nicht.
Ja, und wo man geboren wird. Ist es als Mensch mit Behinderung leichter in einem Dorf wie Damüls aufzuwachsen?
Ja. Der Vorteil ist, dass Damüls so kleinstrukturiert ist. Frida geht in die Kleinschule im Dorf mit nur 17 Kindern. Der Kontakt zu anderen Familien ist dadurch persönlicher. Im Ort kennt man uns, davon profitiert Frida enorm. Es ist wissenschaftlich bewiesen, dass Kinder mit einer Beeinträchtigung von gesunden Kindern am meisten lernen. Weil sie nachahmen und dadurch Entwicklungsschritte angeschoben werden. Sie benötigen ein lebendiges Umfeld, das sie inspiriert. Natürlich auch mehr Betreuung und andere Lernmaterialien. Damüls unterstützt uns hier immer. Was die Schule benötigt, wird zur Verfügung gestellt. Das zeigt, dass Inklusion funktionieren kann, wenn die Haltung von Entscheidungsträger*innen offen gegenüber Menschen mit Behinderung ist. Das ist aber leider nicht überall der Fall.
Was muss sich noch ändern, dass wir nicht mehr über Inklusion sprechen müssen?
Wir brauchen die Offenheit und das Verständnis von allen – Schulleiter*innen, Pädagog*innen, Eltern nicht-behinderter Kinder, Vereinen – und der Politik, dass Kinder miteinander aufwachsen und voneinander lernen sollen. Dass jeder Mensch ein wertvolles Mitglied einer Gemeinschaft ist und diese bereichern kann. Dass das Leben inmitten unserer Gesellschaft, anstelle von Sonderinstitutionen, schlussendlich auch günstiger ist. Wenn Menschen in ihrem Wohnort aufwachsen, wo sie bekannt sind und ein möglichst selbstständiges Leben führen können. Wo Unterstützung da ist und Hilfestellungen im Alltag kein Thema sind. Wenn ich alt bin, erwarte ich mir das ja auch. Niemand ist vor einer Behinderung aufgrund eines Unfalls oder einer Krankheit gefeit. Morgen kann alles anders sein, dessen müssen wir uns alle bewusst werden. Alle Menschen haben das gleiche Bedürfnis nach Zugehörigkeit, Wertschätzung und Akzeptanz. Nur haben manche andere Voraussetzungen zum Leben und Lernen. Es ist unsere Aufgabe als Gesellschaft, ihnen ein gutes Leben zu ermöglichen. Uns allen geht es so gut, das ist etwas, dass unsere Gesellschaft im Stande ist zu leisten.
Mit deinen Worten machst du vielen Menschen Mut. Woher schöpfst du deine tägliche Kraft?
Ich schöpfe Energie daraus, dass ich eine Lösung für ein Problem finden will. Auch daraus, dass ich nicht nur an uns selbst als Betroffene denke. Sondern immer versuche, alle Familien mit ähnlichen Herausforderungen mitzudenken. Ich habe den Anspruch an mich selbst, dass es allen Menschen gut gehen soll. Egal ob mit Behinderung, Migrationshintergrund oder einer anderen sexuellen Orientierung. Wir leben in einer Region dieser Welt, wo es genug für alle gibt. Mir fehlt einfach das Gen, Menschen aufgrund anderer Merkmale auszugrenzen. Weniger Konkurrenzdenken und mehr Miteinander, das wünsche ich mir für unsere Gesellschaft.
Du hast auch mal eine Glücksthese entwickelt. Was können wir uns darunter vorstellen?
Mir ist es wichtig, das Thema Behinderung positiv zu besetzen. Oft schwingen da so viel Schwere und Mitleid mit. Wir hören heutzutage ständig, was für ein gutes, glückliches Leben notwendig ist. Entschleunigung, Raus aus der Komfortzone, Mut zur Lücke, usw. – also eigentlich alles, was das Leben mit einem Menschen mit Behinderung ausmacht. Man muss mehr Zeit einplanen und die Dinge laufen anders, wenn nicht automatisch erwartet wird, Leistung zu bringen. Natürlich ist das auch ein Lernprozess, denn wir wurden anders sozialisiert. Auch ich hadere manchmal mit den Ansprüchen an mich als Mama und an meine Tochter. Grundsätzlich sollten wir allen Mitmenschen mit Respekt begegnen. Manchen ist man sympathisch, anderen nicht – das ist völlig normal. In erster Linie sind wir Menschen und die Behinderung ist ein Merkmal, das natürlich viel beeinflusst. So normal wie möglich und so besonders wie notwendig – das ist die Prämisse, die es im Umgang mit Menschen mit Behinderung, aber eigentlich mit jedem Menschen, braucht.
Weitere Informationen zum Verein Himmelblau und Kinderbuch unter: www.himmelblau.co